Der einsamste Baum Frauenfelds // eine Kindergeschichte für das Mitsommerfest Frauenfeld


Short Stories / Tuesday, June 7th, 2022

Manchmal, wenn das Licht goldig ist vom Sommer, und die länger werdenden Schatten der Dämmerung die letzten Sonnenstrahlen aus den Strassenrinnen waschen, während der Wind etwas stärker weht und es nach frisch geschnittenem Gras riecht, und du schon bald ins Bett musst, obwohl du gerne noch über tausend Träume nachdenken würdest, dann hörst du das Rauschen der Blätter von weit her, und erkennst beinahe eine Melodie darin. Dann fragst du dich vielleicht, was sich die Blätter zuraunen im Licht der untergehenden Sonne.

Ich kann es dir sagen: Sie erzählen die Geschichte vom einsamen Baum.

Im Herzen der Stadt, inmitten der alten Häuser und Türme, welche des Bäckers jahrhundert-herigen Brand überlebt haben, inmitten der neuen Wohnungen und Alleen, welche frischen Wind in die Altstadt bringen, da ist ein Garten für alle.

In diesem Garten für alle steht ein hoher Baum.

Du hast ihn bestimmt auch schon einmal gesehen; er steht etwas abseits von all den anderen Gewächsen. Seine Blätter wispern seine Geschichte im Wind, weil es eine schöne Geschichte ist. Ich habe ihnen gelauscht für dich, um die Worte aufzuschreiben.

Was die Blätter murmeln, wenn es langsam dunkel wird an einem lauen Mitsommerabend in Frauenfeld, ist dies:

Schon als der einsame Baum noch klein war, träumte er vom Grosssein – so gross wie seine Eltern, und vom Schöne-Blüten-Treiben. Er ging jeden Tag zur Baumschule, lernte, ein guter Baum zu sein, immer gerade zu stehen und gute Gedanken zu denken, damit sie irgendwann in Blütenform aus seinen Ästen spriessen würden, so dass alle, die an ihm vorbeikommen, sich darüber freuen und auch gute Gedanken denken.

Als er eines trägen Frühlingstages spürte, wie sich seine Rinde zu spannen begann, freute er sich sehr. Das mussten die langersehnten Blüten sein! Er fühlte sich stark und schön und wunderbar. Aber als der Nachmittag kam, wurde der einsame Baum bitter enttäuscht. Die Kinder machten einen grossen Bogen um ihn, die Jugendlichen setzten sich lieber direkt in die Sonne, die älteren Leute hockten sich auf das Mäuerchen am Rande des Gartens, und niemand schenkte ihm auch nur einen Blick.

Das Gleiche wiederholte sich tagein, tagaus. Es schien fast so, als würden die Menschen ihn absichtlich meiden. Dem einsamen Baum wurde es schwer ums knorrige Herz. Er fühlte sich einsamer als je zuvor. Ob seine Blüten nicht genau so schön waren, wie die aller anderen?

Doch da! Eine johlende Gruppe von Kindern näherte sich ihm. Eines löste sich aus der Gruppe, kam ganz nah und sass in seinem Schatten, während die anderen kicherten. Der einsame Baum hatte das Gefühl, um einen ganzen Jahresring zu wachsen vor Stolz. Doch dann rief eines der anderen Kinder: «Okay, du hast die Wette gewonnen, komm jetzt zurück, oder seine Stacheln piksen dich noch.»

‘Stacheln?’ dachte der Baum erschrocken. ‘Was für Stacheln? Meinen sie etwa meine schönen Blüten?’ Da dämmerte ihm, dass was er für Blüten gehalten hatte, in Wirklichkeit wohl Stacheln waren, und er schämte sich sehr neben all den beblumten Bäumen.

Der Junge aber merkte davon nichts. Schnell rannte er zurück zu seinen Freunden und Freundinnen, welche ihm lachend auf die Schulter klopften. Nur eines der Kinder lachte nicht mit.

«Pssst,» sagte das Mädchen mit den moosgrünen Augen, «sonst hört er euch noch.»

Aber niemand schenkte ihren Worten Aufmerksamkeit. Stattdessen zogen die Kinder gemeinsam von dannen, mit erdbeereisverschmierten Mäulern, ohne noch weiter an den Baum zu denken.

Alle, ausser das Mädchen mit den moosgrünen Augen. Es dachte an den Baum und die Stacheln für den Rest des Tages; beim Schaukeln auf dem Spielplatz, beim Nach-hause-laufen, während dem Nachtessen, dem Zähneputzen, sogar noch während Papa die Gutenachtgeschichte las.

«Wieso haben einige Bäume Stacheln und andere nicht?» platzte es aus ihr heraus. Papa schaute erstaunt auf.

«Hm,» sagte er. «Die Natur weiss, dass manche Bäume einen besonderen Schutz brauchen, weil sie speziell sind. Diesen gibt sie Stacheln, damit sie sich wehren können. So wie du deinen scharfen Verstand hast, Lina, hat ein Baum seine Stacheln. Wieso fragst du?»

«Nur so,» sagte Lina. Papa las weiter, aber Lina dachte weiter an den Baum und die Stacheln. Sie dachte auch noch daran, als Papas Stimme schon lange verklungen war und nur noch der Mondschein über die Wände ihres Zimmers strich. So oft sie sich auch von der einen zur anderen Seite drehte, sie konnte einfach nicht einschlafen.

So geschah es, dass ein paar moosgrüne Augen in der Dunkelheit aufleuchteten, als Lina geräuschlos vorbei am Schlafzimmer ihrer Eltern und aus dem Haus schlich, vorbei an den Nachbarhäusern der Altstadt und zurück in den Garten, bis sie wieder vor dem Baum stand.

«Guten Abend,» sagte sie.

«Gute Nacht,» rauschte der Baum.

«Es tut mir leid, dass die anderen gelacht haben. Deine Stacheln sind da, weil du besonders bist, sagt Papa.»

Der Baum schwieg.

«Was siehst du von da oben?» fragte Lina. «Siehst du mein Haus?»

Der Baum neigte seine Äste leicht. «Ich sehe alle Häuser von hier, auch deines. Es sieht schön aus, hier oben, all die Dächer vor dem besternten Himmel.»

«Darf ich auch einmal sehen?» fragte Lina. Der Baum neigte seine Äste noch ein bisschen weiter dem Boden entgegen. Seine Stacheln formten eine kleine Leiter rund um den Stamm, so dass sie darauf bis zu den Ästen klettern konnte, und von dort aus seinen Ästen entlang nach oben, bis in die Baumkrone, bis sie die Dächer von oben sehen konnte.

«Schön,» sagte sie.

«Danke,» sagte sie auch.

Der Baum gluckste und Lina musste sich festhalten, damit sie nicht herunterpurzelte. Sie erzählte ihm von ihren Träumen, und der Baum erzählte ihr von seinen, bis Lina gähnend gegen den Baumstamm sank. Der einsame Baum breitete seine weichsten Blätter über sie, und bewachte ihren Schlaf; kein einziger böser Traum entging seinem Ästegeflecht.

Am nächsten Morgen versammelte sich eine kleine Menschentraube um den Baum; Linas Eltern waren da, ihre Freunde und Freundinnen von der Schule, ihre Lehrerin, und ihr Opa auch, die Wirtin vom Café neben dem Garten, und die Hauskatze der Bibliothek. Sie alle schauten nach oben in die Baumkrone, wo Lina mitten in den Sonnenstrahlen aufwachte.

«Hallo Mama, hallo Papa, hallo Opa!» rief sie nach unten. «Von hier oben sieht die Welt ganz anders aus!»

Obwohl alle wütend sein wollten, weil sie sich Sorgen gemacht hatten um Lina, mussten sie schmunzeln ab dem Kind im Baum. Dieser neigte wieder langsam sein Haupt und liess Lina sanft von seinen Ästen gleiten, dann trippelte sie die Stacheln entlang nach unten.

«Tschüss,» sagte sie zum Baum. «Danke fürs Horizont-Schauen.» Der Baum gluckste wieder. Alle schauten gebannt von Lina zum Baum und wieder zurück, und rieben ihre Augen, weil sie nicht sicher waren, ob sie immer noch träumten.

Und Lina?

Obwohl sie ihren Eltern versprechen musste, nicht mehr auf den einsamen Baum zu klettern, besuchte sie ihn weiterhin jeden Tag, und dadurch veränderte sie ihn. Nicht etwa sein Äusseres, sondern sein Inneres; er war nun nämlich kein einsamer Baum mehr.

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