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Ramblings / Thursday, June 27th, 2019

Was ist es an Worten, das uns bindet? Ein Mensch könnte tausend verschiedene Dinge tun an einem Tag; abgesehen von den überlebensnotwendigen Beschäftigungen wie essen und atmen kann er auch Dinge rein aus Spass tun, er kann fernsehen, oder sich mit seinem Sternzeichen beschäftigen, oder stricken, oder eben auch: Lesen.

Wieso tun wir das? Was erhoffen wir uns davon? Zwei Stunden von vierundzwanzig verpufft, nur um eine nicht wahllose aber doch recht erratische Aneinanderreihung von Buchstaben, welche Worte bilden, mit unseren Augen wahrzunehmen, diese durch eine magische Gabe unseres Gehirns zu verstehen und dann aufgrund des Gelesenen ein Bild vor unserem geistigen Auge zu modellieren, eine Konstruktion aus nichts, um uns zu verdeutlichen, was jemand anderes auch gesehen hat, vor seinem geistigen Auge. Wir werden nie dasselbe sehen wie der Autor. Wir werden wohl nie dasselbe sehen, wie ein zweiter, anderer, der dieselbe Geschichte gelesen hat. Wir werden ewig alleine sein in der Welt in unserem Kopf, weil nur wir sie genau so erschaffen haben, wie wir es taten, nach der Instruktion des Schreibers. Und doch.

Und doch gibt es nichts, was uns so verbindet wie Worte, wie eine Geschichte. Eine Geschichte, in der wir uns zwar verlieren können, uns aber auf wundersame Weise ebenso gut wiederfinden können, eine Geschichte, durch die jemand anderes uns eine Hand aus Tinte auf die Schulter legt, oder uns behutsam über die Haare streicht, und sagt: „Ich weiss.“

Wieso also tun wir das? Das Lesen? Und das Schreiben?

Weil es so einfach ist wie sein. Oder einfacher. Weil es das Sein erklärt, weil es aufzeigt, dass wir in all unseren Ängsten und Nöten, in unserem brillantesten Jubel und der tiefsten Trauer nicht einzigartig sind, weil es uns zeigt, dass wir im Kerne doch alle gleich sind. Weil es uns, wenn es richtig gemacht wird, vergessen lässt, dass es nicht real ist. Weil es uns Gefühle entlockt, nach denen wir nicht gefragt haben, die aber irgendwie trotzdem willkommen sind. Weil wir uns alle manchmal danach sehnen, nicht hier zu sein, sondern irgendwo weit weg, und Bücher eine Art haben, uns schwerelos zu machen. Weil wir uns manchmal zwischen den Zeilen eines Buches selber entgegenstarren, ein Teil von uns, der immer da war, aber nie benannt wurde, weil wir die Worte dazu selber noch nicht gefunden haben.

Und wenn das nicht Grund genug ist, etwas zu tun, dann müssten wir alle fortan wohl auf ewig schweigend, däumchendrehend, die Unerträglichkeiten des Lebens ertragen.

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