Manchmal stellte sie sich vor, der Strick an dem die Schaukel befestig war, würde reissen. Genau in der Sekunde, bevor die Schwerkraft sie wieder nach unten zöge, würde die letzte Faser mit einem leisen Seufzer endlich nachgeben und sie, Lilith, würde mitsamt Schaukel in den wolkenzerfetzten Sonnenuntergang hinausstürzen. Der Gedanke machte ihr nie Angst, sondern beflügelte sie. Die Möglichkeit, dass sie wieder nach unten fallen würde, kam ihr gar nie in den Sinn; sie malte sich aus wie sie vom Wind getragen über die Baumwipfel fliegen würde, Beine baumelnd, Seele frei. Manchmal träumte sie davon, in den leisen Stunden vor Morgengrauen, wo Träume silbern sind und die Wirklichkeit absurd. Die Schwerelosigkeit in diesen Träumen fühlte sich so real an, die Luft roch so intensiv nach Frühling, dass das Aufwachen jedes Mal aufs Neue eine Tortur war, das mühselige Heraustasten aus einem Traum, eine nüchterne Rehabilitierung in die Realität.
Ihre Kindheit war nicht besonders schwierig, aber auch nicht besonders idyllisch, sie war keine schlechte Schülerin, aber auch nicht besonders klug, ihr Gesicht war keinesfalls hässlich aber eben auch nicht schön, sie war einer dieser Mittendrin-Menschen von denen es Tausende gibt, alle irgendwie gleich in ihrer Mittelmässigkeit. Sie hatte keine besonderen Passionen, keine artistischen Talente die über das Kritzeln in den Marginalien des Schulheftes überausging, ausser eben diese eine Schaukel am Ende der Welt. Die Schaukel selbst war an dem dicksten Ast einer hohen Eiche befestigt. Lilith war sicher dass, wenn sie den Baum absägen und seine Ringe zählen würde, sie niemals damit fertig werden würde, so alt sah er aus. Und doch hielt er sich stolz, Jahr für Jahr festgekrallt an seinem Platz oben am Hügel, direkt vor einem Abhang, am Ende der Welt. Von dort aus sah man weit über die Ebene, Felder auf allen Seiten die sich bis zu den Füssen der Berge erstreckten und dann die Berge selbst, die sich mit entschiedener Kraft von der Erde abstiessen, dem Himmel entgegen, mit eisernem Willen. So wollte sie auch einmal sein, unerschütterlich wie die Berge und frei. Sie kam hierher an lauen Sommerabenden, an denen die Zikaden sangen und die Luft schwül war, oder an Winterabenden, an denen Schnee die Holzplanke der Schaukel bedeckte und die Lichter der Stadt in der Ferne glänzten. Sie kam hierher an Samstagmorgen und Dienstagabenden, für fünf Minuten oder fünf Stunden, denn sie kam hierher zum Träumen. Sie malte sich aus, was sie später alles erleben würde, Abenteuerreisen über das Meer auf einer Nussschale, sie als Geigenwunderkind oder später als Astronautin, die erste Frau auf dem Mond – das alles erschien möglich auf ihrer Schaukel am Ende der Welt.