„Mein Leben war so lang in vielen Aspekten, und so unglaublich kurz in vielen anderen. Ich erinnere mich nicht mehr mit Sicherheit an die grossen Dinge. Ich weiss nicht mehr, wie mein Hochzeitskleid ausgesehen hat, was das erste Wort meines ersten Kindes war. Erinnerungen sind eine seltsame Sache. Ich weiss nichts mehr von den grossen Dingen, nur im Kleinen erinnere ich mich an mein Leben. Ich finde Teile davon wieder in den unverfänglichsten Anstössen; im Rauch einer Montecristo No. 2, oder in der Art wie die Sonne sich auf der Plache des Metzgerstandes am Marktplatz bricht oder in einem Volkslied, welches vor Sonnenuntergang aus einem offenen Fenster in die Strasse klingt. Diese Dinge sind es, welche mich sofort und unabdingbar in vergangene Augenblicke meines Lebens zurückwerfen, unbedeutende auf den ersten Blick vielleicht, aber sie alle haben ihre Existenzberechtigung in meinem Kopf. Ich habe lange schon aufgegeben, Gedanken zur Seite zu schieben. Davon kann nichts Gutes wachsen, ich weiss das jetzt. Du bist jung und blauäugig und gut. Wenn ich könnte, würde ich meine verbleibenden Jahre absägen und sie an dein Revers heften, neben all deine anderen kleinen Abzeichen und Auszeichnungen. Du und deine Geschwister seid das Beste, was ich in meinem Leben zustande gebracht habe. Und das sagt viel, denn zustande gebracht habe ich eine Menge. Deshalb: Glaube nicht, dass mein Leben nicht schön war. In all den grauenhaften und wunderbaren Dingen, welche mir widerfahren sind, gab es ein Equilibrium. Ich möchte nicht schlecht darüber reden, es war meines und ich habe es so geführt, wie ich es für richtig halte. Nur manchmal, da schleichen sich die Gedanken in meinen Kopf. Was wäre, wenn.
Du weißt das noch nicht, aber du wirst es noch lernen: Wir Menschen sind oft die Schachfiguren in einem viel grösseren Spiel, einem wovon wir nichts verstehen und nie etwas verstehen werden, weshalb wir auch nicht mitspielen können. Wir sind Variablen, bestimmt durch Ort und Zeit, durch Blut und Abstammung, durch Glück und Zufall, errechnet durch so viele Bestimmten, dass es sich nicht lohnt, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Eins und eins wird nie drei geben, so fest du die Zahlen auch drehst, verstehst du wie ich das meine?
Ich bin zum Schluss gekommen, lange schon, dass das in Ordnung ist. Das ist etwas, an das ich mich gut erinnere, der Moment in dem ich verstand. Dieses Leben, mich, meinen Ehemann ein bisschen besser, was es heisst ein Mensch zu sein. Dass ich nicht anders konnte, nicht anders wollte, sollte, musste, als ich es tat. Dass mein Leben schon vorausgesagt wurde, als ich noch im Bauch meiner Mutter sass und wartete; auf Licht und Glück und Zufriedenheit. Dass ich meine Kinder alleine grosszog und dass das wohl besser so war, denn sonst wäre es anders gewesen. Dass, so wie ich lebe, schon gut ist. Dass es schon gut sein wird. Dass es immer gut sein wird, so wie es ist, weil das Leben sonst so unglaublich hoffnungslos wäre.“
Ich fühle mich ihr ausgeliefert, ihr und ihrem leicht vorwurfsvollen Blick, als wäre ich verantwortlich für das Seelenleid ihrer Mutter, welches sie gerade aus dem Brief in ihrer Hand vorgelesen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe, mein Spanisch reicht dazu nicht aus. Aber ich glaube, ich habe verstanden, worum es geht. Ich hebe entschuldigend meine Schultern, für was genau weiss ich selber nicht, aber es scheint mir das einzig Angemessene zu sein. Was meinst du, frage ich sie, zu deinem Vater?
Ich glaube, dass es nie jemanden wie ihn gegeben hat, und dass es das auch nie wieder wird. Er war mutig. Und fundamental. Und verrückt genug.
Der Zigarettenrauch quillt aus ihrem Mund, ich kann sie fast nicht mehr ausmachen dahinter.
Und was denkst du wirklich?
Was er mit unseren Leuten gemacht hat? Lange war ich zu selbstsüchtig, mich damit auseinanderzusetzen. Es tut weh, den eigenen Vater zwei Mal sterben zu sehen. Aber ich vergebe ihm. Er hat es gut gemeint. Lieben tue ich ihn trotzdem.
Ob wir das nicht immer so machen, mit den Leuten die uns am meisten wehtun, frage ich und stehe vom Tisch auf.
Auf dem Weg nach draussen zünde ich mir eine Zigarette an und verstaue das Aufnahmegerät in meiner Tasche. Als Journalist möchte ich zwar immer die Wahrheit herausfinden, aber gegen die Liebe einer Tochter kommt man wohl nicht immer an.
Liebe ist gut. Wut auch.
Ebenso Vergebung.
Viva la revolución.