Text für eine Lesung an der schweizerischen Erzählnacht zum Thema “Top Secret”.
Und es gibt es doch, genauso wie du gesagt hast. ‚Das gute Geheimnis’ hast du es genannt. Diese kleinen, leisen Momente im Leben, die nur hie und da aufblitzen im nie-endenden Sog des Alltags. Man steht in der Küche mit einem Glas Wein in der Hand und im Hintergrund läuft eine Melodie, die in einem das Gefühl von einer einst gekannten Freiheit auslöst oder man sitzt in einem Feld voller spätsommerlicher Disteln mit einem lang geliebten Buch im Schoss oder man wärmt sich an einem Feuer die Hände, umgeben von Freunden und einem wird bewusst, dass man lebt. Dass das alles Leben ist, ohne wenn und aber. Dass man nicht immer warten soll auf die speziellen Dinge, nicht immer an allen goldenen Momenten vorbeirennen muss auf der Gerade zum nächsten glitzernden Ziel, welches bei näherem Betrachten seltsamerweise zu einer eindimensionalen Fläche zusammenschrumpft und sobald man ebenauf damit steht, nebst einem faden Beigeschmack nur leise Enttäuschung hinterlässt.
Ich kenne das. Schon als ich jung war, war in mir immer eine gewisse Unruhe, ein Drang besser zu sein. Besser als meine Klassenkameraden, besser als meine Geschwister und sowieso schon besser als meine Eltern, mehr aus meinem Leben herauszuholen als mittelmässige Bourgeoisie in einem Vorort, in dem nicht einmal weiss gestrichene Holzzäune und der blaue Himmel über die Farblosigkeit der Einwohner hinwegtäuschen konnten. Und eines muss man mir lassen; ich schuftete dafür. Mit Elan und einer gewissen selbstgefälligen Freude an meiner eigenen Strebsamkeit arbeitete ich auf meine Zukunft hin. Ich war zwar nicht sonderlich beliebt, aber ich war gut. Besonders mein Biologie-Lehrer sah grosses Potenzial in mir; er war es auch, der mich kurz vor Beginn der Universitäts-Einschreibungsfrist nach einer Stunde zur Seite nahm und mit ernstem Gesicht fragte, ob ich je an eine Karriere im medizinischen Bereich gedacht hätte. Als ich das verneinte, drückte er mir einen Prospekt des Imperial College in die Hand. Natürlich wurde das zu meinem nächsten Ziel erklärt, dem flackernden Neonschild, an dem ich mich blindlings orientierte wie eine Motte; ewig angezogen vom Licht ohne genau zu wissen wieso. Ab diesem Zeitpunkt verbrachte ich Stunde um Stunde vertieft in schwere Anatomie-Bände oder ausgediente Skripten, die Arbeit an sich nicht halb so befriedigend, wie der Gedanke an meine faulen Klassenkameraden, die im selben Moment wohl mit der Sonne im Gesicht am See lagen und sich mit weniger zufrieden gaben, sich immer mit weniger zufrieden geben würden.
Heute kann ich zugeben, dass die Faszination der Medizin für mich, in frühen Jahren zumindest, nicht in der wendeltreppenförmigen Gestalt einer DNA zu finden war, und auch nicht in dem klebrigen Ligament eines Oberschenkelknochens sondern einzig und allein in dem Gedanken, ein Fahrschein zu einem Ort weit weg von der mediokren Mittelmässigkeit zu sein. Natürlich bestand ich den Eignungstest und zog vier Monate später mit Sack und Pack in einen der Studentenwohnblöcke in Fussnähe zur Uni.
Du studiertest vergleichende Literaturwissenschaften weil du schon immer schreiben wolltest. Als erstes fiel mir an dir deine mit Sommersprossen übersäte Nase auf und wenn du mit deinen Freundinnen diskutiertest, dann wollte ich eigentlich immer nur dazusitzen und dir zuhören. Als ich nach wochenlangem Beobachten endlich meinen Mut zusammennahm und dich fragte, ob du wohl einmal mit mir ausgehen würdest, dachte ich, du würdest nein sagen. Aber du hast nur genickt und mich erwartungsvoll angeschaut. Wir standen beide etwas verloren im lichtdurchfluteten Innenhof des Bibliothekskomplexes bis du sagtest: “Na los, worauf warten wir?”
Als wir nach unseren ersten Zwischenprüfungen klammheimlich über Nacht nach Paris fuhren, mit nur einem veralteten Stadtplan, sechzig Euro und deinem Notizbuch in der Tasche, da hast du bei jedem Strassenhändler Halt gemacht, bei dem es in Kisten gestapelte, alte Bücher zu durchstöbern gab. Manchmal wurde ich fast schon ungehalten, weil du doch nie eines kauftest – du konntest stundelang damit zubringen, Bücher anzuschauen, nur um dich am Schluss mit einem geflüsterten Dank an den Verkäufer wieder aufzurichten. Du hast dann immer gelacht und gesagt, das gehöre auch zum guten Geheimnis.
“Es geht nicht darum, ein neues Buch zu besitzen, sondern um die Zeit, die du dir nimmst, um über den Einband zu streichen oder die handgeschriebene Widmung zu lesen oder das schwarz-weiss Foto anzuschauen, das der Vorbesitzer als Lesezeichen benutzt hat.”
Obwohl du Bücher liebtest, hast du nicht viele besessen; ein Exemplar von On The Road und ein Gedichtband von Rimbaud. Du hast sie lieber selbst geschrieben, deine Geschichten. Wenn du anfingst, deine Traumwelten zu basteln, sie dir in mühseliger Kleinarbeit aus Worten zusammenzuzimmern, dann habe ich dich immer dafür bewundert. Während meinen zwei Jahren Assistenz-Zeit am St. Mary’s Hospital machtest du die Zusatzausbildung zur Lehrerin auf Tertiärstufe. Wir wohnten in einem scheusslichen Apartment, für das wir trotz Feuchtigkeit und heruntergekommenen Tapeten eine Summe hinblätterten, die für uns damals wohl ein kleines Vermögen gewesen sein musste. Für mich war diese Zeit eine Unannehmlichkeit, die schlicht überdauert werden musste, ein notwendiges Übel an dessen Ende ein grosses Einfamilienhaus mit Garten auf uns wartete. Wenn ich nach einer besonders anstrengenden Schicht nach Hause kam, fand ich dich meist am zu kleinen Esstisch in unserer Küche vor, eifrig in dein Notizbuch kritzelnd. Ohne ein Wort über Trivialitäten zu verlieren, begannst du jeweils damit, einen Absatz vorzulesen, der dir besonders gelungen erschien, oder eine ganze Seite oder neun. So nahmst du mich immer mit auf deine literarischen Gratwanderungen; komplexe Gefühlswelten und Galaxien, alles in unserer einengenden, versifften Küche. Ich war dein erster Schüler, du hast mich gelernt, Worte zu schätzen. Und einige Jahre später fülltest du die Köpfe deiner fünfzehnjährigen Schüler mit Begeisterung, für das was dich begeisterte. Ich hingegen schuftete weiter auf meinem Weg zum Arzt, kämpfte mich durch nie-enden-wollende Nachtschichten und gegen das zähe Gefühl von Schuld, dass sich nach einer Weile in einem Spital fast nicht mehr von den eigenen Händen kratzen lässt. Am selben Tag an dem mir die Verantwortung über meine eigene Abteilung im Royal Hospital übertragen wurde, kaufte ich einen Diamantring und zwei Schiffskarten für eine nächtliche Rundfahrt auf der Themse. Zwei Jahre darauf lebten wir in einem hellen Apartment mit Parkettboden im Stadtteil Bloomsbury; über unser halbjähriges Mädchen Rosalie wurde unzählige Male gesagt, sie habe meine Augen, aber deinen Mund.
Und wenn ich jetzt an deiner Beerdigung wäre, dann würde ich das alles hier gar nicht aufschreiben, weil es sowieso schon alle wüssten. Weil unsere gemeinsame Geschichte nicht nur ein fragmentarisches Relikt aus alten Zeiten wäre, ein weitergespinntes Fantasiekonstrukt meines Gehirns. Weil wir uns nicht knapp einen Monat nach unserer Diplomfeier aufgrund von Job-Angeboten in entgegengesetzten Teilen der Welt getrennt, sondern tatsächlich geheiratet hätten bevor du deinen Ehemann kennengelernt hast und ich endgültig nach Rom gezogen bin, weil mir so gut gefiel, wen und was ich dort fand, dass ich nie mehr den Wunsch verspürt habe, nach England zurückzukehren. Weil ich in deinem letzten Atemzug deine Hand gehalten hätte und nicht an einem klaren Herbstmorgen auf der Piazza de Ventura in dem Café mit den rot-weiss gestreiften Sonnenstoren gesessen hätte. Weil meine Hände nicht so zu zittern begonnen hätten, dass ich meinen Espresso abstellen musste, als mein Blick auf ein Foto im Gazettino meines Tischnachbars gefallen war. Weil ich dann nicht mitten auf einer Piazza in Rom begonnen hätte zu weinen – nicht nur aus Wehmut für eine Jugend, die ich mit dir geteilt habe und einer Lebenszeit von Erinnerungen, von denen ich nie Teil war, sondern auch aus Freude. Denn da war ein Bild von dir, du hattest zwar Falten im Gesicht und deine Haare waren von kupferrot zu hellgrau übergegangen, aber das warst immer noch du, so wie ich mir dich vorstellen konnte, und du hieltest ein Buch in der Hand.
Und die Überschrift des Artikels hiess: “Gefeierte Autorin stirbt mit 54 Jahren”
Ich hätte dir so gerne gesagt, dass ich es jetzt auch verstehe, dein gutes Geheimnis. Dass die Zeit mit meinen beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen mir beigebracht hat, dass mit den richtigen Menschen um einen herum, plötzlich jeder Moment irgendwie erstrebenswert wird. Und als wir zwei nebeneinander auf einem Mäuerchen entlang der Seine sassen, nur du und ich an einem warmen Sonntag im Mai, und die Sonne zögerlich auf unser Gesicht schien, dass ich da auch mit weniger zufrieden war.
Weil es in Wirklichkeit gar nicht weniger war, sondern mehr.