Es schien fast so, als würde das gesamte ligurische Bergdorf mit jedem Schlag der schweren Kirchturmglocke mitbeben. Feiner Nebel hing vor den steinernen Häusern, umwickelte die Fenster und Türen wie Wattebäusche und tunkte die engen, verschlafenen Gässchen Baiardos in gespenstisches Licht. Als nun die Glocke zum neunten Mal schlug, hätte ein verirrter Wanderer ein seltsames Schauspiel mitverfolgen können, das ihm wohl einen gehörigen Schrecken eingejagt hätte: Punkt neun Uhr öffneten sich nämlich knarzend ausnahmslos alle Türen der verfallenen Häuser in der Via de Nebbio. Der Wanderer hätte wahrscheinlich die Hände auf seine Backen geschlagen und fortan behauptet, dass es im alten Dorfe oben am Berg spukt.
Doch dies entspricht natürlich nicht der Wahrheit.
Wenn er nur noch einen Moment länger gewartet hätte, dann hätte er gesehen, wie sich Haus um Haus, ein, zwei, drei, ja bei dem besonders verfallenen Haus mit den verwelkten Geranien im Vorbeet, sogar vier Köpfe in den Spalt zwischen Türrahmen und Tür schoben. Sobald vom kraushaarigen Jungen aus Haus Nummer eins das abgemachte Pfeifen ertönte, folgten auf die Köpfe auch die restlichen Körperteile der Kinder von Baiardo. Sachte wurden dreizehn Türen hinter sich ins Schloss gezogen, die Kinder fassten sich alle bei den Händen und trippelten leise, barfüssig auf den kalten Steinplatten, zum Ende der Sackgasse.
Vor dem hintersten Haus auf der rechten Seite der Strasse blieben sie alle stehen, wie jeden Sonntagmorgen. 24 braune und zwei blaue Augenpaare richteten sich auf das Haus am Ende der Strasse, das so gar nicht zu seinen Artgenossen passen wollte. Es stand aufrecht, weder lehnte es sich hilfesuchend an seinen Nachbarn an, noch liess es sich von dessen Efeu in Beschlag nehmen. Es leuchtete in einem Azurblau, das in wunderbarem Gegensatz zur graubraunen Kulisse der Nachbarschaft stand. Und das Wichtigste: Die Tür stand offen.
Die Tür stand offen und das tänzelnde Flackern eines Kerzenscheins hiess die Kinder wie ein livrierter Diener willkommen. Es streifte ihnen, wie sich das für einen guten Gastgeber gehört, ihre Sorgenlast von den schmalen Schultern und hängte sie an einem hölzernen Bügel neben der Tür auf, wo sie für die Dauer des Besuches vergessen wurde. Danach führte es sie in das azurblaue Haus hinein, dessen Wände über und über mit Worten aus verschiedenen Sprachen bedeckt waren. Und in der Mitte des Hauses, auf einem ledernen Sitzsack sass er. Wortflechter, nannten sie ihn, denn seine Kunst war es, Worte zu pflücken, mühelos, wie ein kleines Mädchen auf einer Blumenwiese, und sie zu einem Kranz aus Worten und Blüten und Kommas und Stängeln zu flechten, so dass man am Schluss nicht mehr erkennen konnte, wo die Geschichte begonnen hat und wo sie zu Ende war. Tatsächlich behaupteten böse Zungen, der Wortflechter habe noch nie keine Geschichte erzählt. Sein ganzes Leben sei eine Geschichte, erträumt und zusammengesponnen und sowieso sei er doch noch nie aus Baiardo hinausgekommen, schimpfte erst gerade letzte Woche die pausbäckige Lucia über ihre Wäscheleine hinweg mit ihrer Nachbarin Sofia. Viele Erwachsene schienen einen Groll gegen den Wortflechter zu hegen, da er sich nicht am Dorfleben beteiligte und eher von ruppigem Gemüt war. Doch die Kinder liebten ihn. Sie liebten sein plumpes Gesicht mit der krummen Adlernase, die wässrigen Augen, die manchmal fast wie zwei kleine Taschenspiegelchen in der Sonne aufleuchteten und sein schwarzes Haar, von dem einzelne Strähnen sich über Nacht immer wieder einmal in einen weissen Farbtopf zu verirren schienen. Sie liebten seine knorrigen Hände, die fast schon widerwillig ächzten, wenn er zu seinen Geschichten gestikulierte. Sie liebten seine Stimme, die Füsse hatte um zu tanzen und Hände um sie in andere Welten zu führen. Aber am meisten liebten sie seine Geschichten, die voll von Liebe und Licht waren, in einer Strasse, die nur Nebel und die Farbe Grau kannte.
An diesem Morgen breiteten sich die Kinder in seinem Haus aus wie ein Schwarm von Vögeln, der am Ende des Sommers vergessen hatte, Richtung Süden zu fliegen und nun einen warmen Platz zum Überwintern brauchte. Giuseppina aus Nummer 8 nahm ihre beiden kleinen Brüder Giosuè und Giovanni auf die Knie, Pippo aus Nummer 1 hockte frech auf die Tischkante, Antonetta aus Nummer 5 kniete sich neben den Sitzsack. Der Wortflechter öffnete seinen Mund, doch anstatt einer Begrüssung purzelten schon die ersten Worte einer neuen Geschichte über seine Lippen.
Als die Kirchturmglocke von Baiardo zehn Mal schlug, hätte ein verirrter Wanderer ein seltsames Schauspiel mitverfolgen können: 26 Kinder stoben aufs Mal aus einem azurblauen Haus am Ende einer Sackgasse und schlichen auf Zehenspitzen durch den Nebel die Strasse entlang. Doch was ihm verborgen geblieben wäre, sind 26 Köpfe, die voll von Wundern und Sagen, von Träumen und guter Zuversicht, von Worten und Taten zurück nach Hause kehrten.