desolation row


Short Stories / Thursday, February 27th, 2020

Ohne grosses Aufhebens war sie manchmal da und manchmal nicht. Ich machte mir nicht viel daraus, viele Menschen sind manchmal da und manchmal nicht, ein paar Menschen sind wohl gar nie richtig da, wenn ich mir das recht überlege.

Aber sie war manchmal da.

Dann ging sie auf ihren Stelzenbeinen vorbei an uns allen und setzte sich in die hinterste Ecke des Bistros, ein bisschen so als wäre alles andere eine Übertreibung, unangebracht. Sie unterhielt sich mit niemandem, sie schrieb. In ein kleines abgegriffenes Notizbuch, immer nur ein paar Seiten aufs Mal, vielleicht reichte ihre Motivation nicht für mehr, ich weiss es nicht und ich habe sie, aus vorhergenannten Gründen, nie gefragt. Obwohl sie nie etwas bestellte und somit dem Bistro auch nie einen Rappen einbrachte, war sie willkommen hier, weiss Gott wieso. Niemand fragte sie je nach ihren Gründen oder nach ihrem Wunsch. Sie wurde alleingelassen, das was sie, wie es schien, am meisten wollte. Ein Bahnhofsbistro kann ein einsamer Ort sein, ich weiss das gut. Ein mittelalter Mann mit einem leichten Bierbauch und einer halbvollen halbleeren Zigarettenschachtel in seinem Sakko weiss solche Dinge einfach. Wieso? Weil, und ich schwöre, das ist die Wahrheit, weil nur Leute da drin sitzen, welche keinen anderen Ort zum hingehen haben. Wer sitzt freiwillig in einem Bahnhofsbistro? Die dicken Rauchschwaden machen nach fünf Minuten Kopfweh, das Bier ist meistens lau und die Sessel abgewetzt und trotzdem speckig. Aber es ist ein Ort wo Menschen sind, wo Stimmen sind, die nicht hohl tönen, weil sie aus dem Radio oder aus dem Fernseher kommen. Ich bin sicher, dass Spiez eine schöne Stadt sein kann für viele. Nicht für mich. Aber ich wohne nun mal hier, ich habe nun mal meine Wurzeln in diesem spiessigen Spiezer Boden und sich selbst zu entwurzeln und in einer anderen Erde einzupflanzen ist ganz schön schwierig mit 53 Jahren. Und es sind ja nicht nur meine Wurzeln, es sind auch die meiner Kinder. Wenn ich ehrlich bin, weiss ich, dass es sie nicht so traurig machen würde, wenn ich mich entwurzeln würde. Ich weiss ja jeweils gar nicht, was sie wollen, sie kommen zu mir jeden zweiten Freitagabend und wir schauen fern und schlafen ein und am Samstagmittag spazieren wir im Wäldli hinter dem Quartier bis sie nörgeln und wir einen Hamburger beim Imbissstand kaufen. Mittelmässigkeit ist alles was ich ihnen bieten kann, und das liegt nicht nur an meinen finanziellen Mitteln, sondern auch einfach an meiner Mittelmässigkeit per se. Ich war immer mittelmässig, ich bin der Erste, der das zugibt, ehrlich. Es macht mir nichts.

Wie auch immer, weil ich mich selbst kenne, kenne ich auch das restliche Klientel im Bahnhofsbistro. ‚Takes one to know one’, singt Bob irgendwann in einem seiner Lieder. Wir sind alle gleich, in unserer ewig lästigen Einsamkeit, die anderen Bistro-Gäste und ich und Bob Dylan wohl auch.

„Was summst denn du?“

„Sie spricht ja doch,“ sagte ich, nicht milde überrascht. Das Stelzen-Mädchen zog einen Stuhl an meinen Tisch, ohne zu fragen.

„Das ist eine doofe Aussage, logisch spreche ich. Nur halt nicht mit allen.“ Ich sagte nichts.

„Darf ich?“ fragte sie dann doch noch, als sie schon abgesessen war.

„Meinetwegen,“ sagte ich. „Ich summe ein Lied von Bob Dylan. Weiss nie, wie’s heisst.“

„Ich kann versuchen, es zu shazamen.“ Sie zückte ihr Handy und nickte mir erwartungsvoll zu.

„Zu was?“

„Zu shazamen. Mithilfe eines Apps einen Song erkennen, der gerade läuft. Hat zwar noch nie funktioniert mit Vorsingen, aber wer weiss?“

„Du willst, dass ich es vorsinge?“ Sie nickte. Ich fühlte mich etwas in die Ecke gedrängt und sang leise die ersten zwei Zeilen, es tönte wacklig und ich brach peinlich berührt ab und schaute in mein Bier.

„Kann den Text nicht so gut.“

„Macht nichts. Mir gefällt dein Summen,“ sagte sie und verstaute ihr Notizbuch in ihrem Beutel.

„Was schreibst denn du dadrin immer auf?“ fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern.

„Euch.“

„Ist das spannend?“ Sie zuckte abermals mit den Schultern. „Manchmal.“

Dann zückte sie nochmals ihr Handy und drückte ein bisschen daran herum, nickte zufrieden, dann steckte sie das Handy wieder weg.

„Was machst denn du immer so hier drin, schreibst ja nicht einmal, um dir die Zeit zu vertreiben,“ fragte sie dann.

„Überlegen.“

„Ist das spannend?“

„Manchmal.“ Sie nickte wissend und schürzte die Lippen und erinnerte mich dabei ein bisschen an meine Tochter, wenn sie wütend ist, aber ich fragte nicht nach.

„Ich muss dann mal,“ sagte sie und sprang auf vom Tisch und ich wünschte mir, ich könnte auch einfach sagen „Ich muss dann mal“ und aufspringen und aus dem Bistro gehen und nochmal ganz von vorne anfangen mit dem Leben, und vielleicht die eine oder andere Chance doch noch packen, und vielleicht das eine oder andere ungeschehen machen, das ich gesagt oder gesehen habe.

„Tschüss,“ sagte sie noch. Und: „Das Lied heisst übrigens ‚Desolation Row’, ich hab’ den Songtext gegoogelt, den du gesungen hast.“ Dann stelzte sie davon, rechte Hand in der hinteren Hosentasche, und ihr Körper verdunkelte kurz den Raum, als sie durch die Türe des Bistros trat und in der gleissenden Mittagssonne verschwand.

‘And though her eyes are fixed upon // Noah’s great rainbow // she spends her time peeking into // desolation row’

Leave a Reply